Katja Lange-Müller

Beobachtung und Fiktionalität in der Erzählung

Die Erzählung, die Novelle zumal, “lebt”, außer von einer keineswegs immer sich entwickelnden Handlung, vor allem von zwei Substanzen: der Beobachtung und der Erfindung, eben der Fiktion(alität). Auch wenn der Autor der Auffassung sein sollte, daß alles, was er da schreibt, “ausgedacht” ist, ohne seine Lese- oder Lebenserfahrung (oder wenigstens die eines anderen Menschen) kann er sich nichts ausdenken. Je genauer, so meine vielleicht nicht sehr wissenschaftliche These, ein Autor beobachtet, umso präziser und wirksamer (für Text und Leser) seine Phantasie. Kann man etwas Ausgedachtes beschreiben als sei es beobachtet? Man kann. Aber wie geht das? Ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, wenn der (naive) Leser überzeugt ist, der Autor kennt alles, wovon seine Erzählung spricht, hat es also erlebt, schreibt realistisch aus Kenntnis, autobiografisch wahrscheinlich. Doch wie heißt es bei Rilke: “Der Poet verstellt sich/heuchelt so gewagt/ daß er selbst den Schmerz vortäuscht/der ihn wirklich plagt.” Wie wirken Beobachtetes, Erlebtes, Mitgefühltes und Fiktionalität, also die aus dem Beobachteten, (…) sich entwickelnden erfundenen oder tatsächlich eingetretenen, aber abgewandelten Resultate von Beobachtungen literarisch zusammen? Welche Transformationen erfährt im literarischen Text das auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen stattfindende Wirkliche (und das Beobachtete, Erlebte, … ist ja nichts anderes als das mehr oder weniger subjektiv wirkliche? wie funktioniert in der Novelle die “fabelhafte Eskalation” der Ereignisse, das aus geringfügigem Anlaß erwachsende Verhängnis, das für diese Erzählungsgattung so bezeichnend ist? Den Schriftsteller verleiten Beobachtungen, natürlich auch Selbstbeobachtungen, oftmals zu Spekulationen. Welche Folgen könnte dies oder jenes haben? Was geschähe, wenn der oder der dieser oder jener begegnete? So gesehen ist die (literarische) Fiktion oft eine Art Spekulation über Entwicklung und Ausgang einer (zufälligen?) Konstellation.
All diese Vorgänge, bezogen auf die Erzählung, will ich mit den Studenten erforschen.
Selbstgeschriebene Erzählungen sind dafür nicht unbedingt erforderlich, doch wenn einer eine solche gerade fertig hat und dafür hergibt, würde ich diese Arbeit gern mit den Studenten besprechen.
Es geht mir auch um die Erzählung als herausragende, von der Kritik leider allzu lange stiefmütterlich behandelte Literaturgattung.

Die Literatur dazu: Thomas Mann, die Erzählung “Der schwarze Schwan”. Herman Melville, die Erzählung “Bartleby”, oder “Billy Budd”. Judith Hermann, aus dem Erzählungsband “Sommerhaus, später” die Erzählung “Die Balifrau”.

Prosa