Das Gedicht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Bekanntlich leitet sich die Lyrik von der Leier her: Gedichte wurden gesungen, mit und ohne Begleitung; sie wurden mündlich tradiert, lange bevor sie schriftlich fixiert wurden. Für die Entfaltung lyrischer Formen ist dies ein wesentliches Moment: Die klanglichen Mittel (Reim, Rhythmus etc.) des Gedichts zielten zuerst auf seine Memorierbarkeit. Mit der Erfindung des Buchdrucks entstand ein medialer Speicher, der das Gedächtnis entlastete.
Auch erschloß sich die Fläche als Gestaltungsraum (Bildgedichte) ; was als Gedicht zu lesen ist und was nicht, wird seither vorrangig durch optische Mittel (Strophe, Flattersatz) signalisiert. Schrift war zugleich ein Weg, das Gedicht länger und im Stillen zu betrachten: Es wurde zum Studienobjekt. Auch dies zeigte Rückwirkungen: die Musikalität trat zurück. Gleichwohl wirkte die mündliche Tradition weiter fort, wurde in der Romantik (Kunstlied) und bei Dada von neuem stilbildend. Gottfried Benn hielt das moderne Gedicht dagegen nicht mehr länger für vortragsfähig. Es verlange den Druck auf Papier, das Lesen, die schwarze Letter – vor allem wegen des ihm eigenen Schwierigkeitsgrades. Bemerkenswert ist die Position Stefan Georges, der für seine Gedichte sowohl eine bestimmte Schrift als auch einen bestimmten Vortragsstatus festlegte. In der Konkreten Poesie wurden Lautform und Schriftbild versuchsweise autonom gesetzt. Vortragskünstler wie Ernst Jandl machten Lesungen zum genuinen Ereignis, das sich von stiller Lektüre programmatisch unterscheidet. In jüngster Zeit legte die “Spoken Word” -Bewegung einen neuen Akzent auf den mündlichen Vortrag, was als Revitalisierung, aber auch als Simplifikation des Gedichts gedeutet werden kann.
Vor dem skizzierten Hintergrund stellt sich dieses Seminar die Aufgabe, Gedichte auf ihre Doppelnatur als mündliche und schriftliche hin neu zu befragen. Dabei soll nie rein theoretisch, sondern stets am konkreten Gedicht gearbeitet werden. Anhand von Text- und Tonbeispielen vom Barock bis zur Gegenwart wird überprüft, inwiefern sich schriftlicher und mündlicher Text überhaupt decken.
Fragen eines angemessenen Vortragsstils sollen ausführlich erörtert werden. Hierzu sind praktische Übungen vorgesehen. Die Teilnehmer sind dabei in ihrer Kompetenz als Leser/Hörer wie als Autoren von Gedichten gefragt. Wie verändert sich ein Gedicht, je nachdem, wer es wie vorträgt? Welche Rolle spielt das gewählte Medium (Buch, CD, Video, Internet) für die Arbeit des Autors? Was geschieht mit dem Gedicht, wenn es vertont wird? Ist die Lesung eine Werbeveranstaltung fürs Buch oder eine Kunstform? Kann die Performance das Buch ersetzen? Welche Rolle spielt die physische Präsenz des Autors? Wie wirkt sich die Verflüchtigung des Physischen im Internet aus? Hinter alldem mag die Frage nach der Substanz kenntlich werden: ein Gedicht, was ist das überhaupt?