Werner Fritsch

Dramaturgie des Traums

Nachdem wir im vergangenen Sommer das geschichtsträchtige Terrain von Tragödie und Komödie, angefangen von der Antike bis zur Gegenwart, sowie das Mycel der Mythenstoffe, das Arsenal der Charaktere und die Gegensätze der Dramaturgie der Tragödie, des Satyrspiels und der Komödie kennengelernt haben, ist es Zeit, Neuland zu betreten – und einen Traum der avancierten Dramaturgie ins Auge zu fassen: die Dramaturgie des Traums.

Offenen Auges zu untersuchen, welchen Gesetzen die Stücke, die hinterm geschlossenen Vorhang Ihrer Augen Nacht um Nacht aufgeführt werden im Theater unter Ihrer Schädeldecke, gehorchen. August Strindberg schreibt in der Anmerkung zu seinem Stück TRAUMSPIEL: „Im Anschluß an sein früheres Traumspiel NACH DAMASKUS hat der Verfasser in diesem Traumspiel versucht, die unzusammenhängende, doch scheinbar logische Form des Traums nachzubilden. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht. Von geringfügigen Wirklichkeitsanlässen schweift die Phantasie aus und webt neue Muster: ein Gemisch aus Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Verstiegenheiten und Improvisationen. Die Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, fügen sich wieder zusammen. Aber ein Bewußtsein steht über allem, das des Träumenden.

Für dieses Bewußtsein gibt es keine Geheimnisse, keine Inkonsequenz, keine Skrupel, kein Gesetz. Er verurteilt nicht, er spricht nicht frei, er gibt nur wieder. Und weil der Traum meist schmerzlich ist, und nur selten froh, geht ein Ton von Wehmut und Mitleid mit allem was lebt durch den vorwärts schwankenden Bericht. Der Schlaf, der Befreier, ist oft grausam, doch wenn die Pein am heftigsten ist, kommt das Erwachen und versöhnt den Leidenden mit der Wirklichkeit, die, wie qualvoll sie auch sein mag, in diesem Augenblick doch eine Erleichterung ist, verglichen mit dem schmerzhaften Traum.” Aber selbst Strindberg hat es kaum geschafft, diesem bahnbrechenden Vorwort in seinem TRAUMSPIEL nachzukommen. Der Traum ist auf der Landkarte der Dramaturgie noch immer ein weißer Fleck. Selbst in jüngster Zeit hat der Dramatiker Heiner Müller in seine letzten Gesprächen mit Nachdruck darauf hingewiesen: daß in den Dramaturgien des Traumes die Zukunft des Theaterschreibens zu suchen sei.

Wir werden in diesem Seminar mit Vergils Aeneas die Unterwelt betreten: Wir werden daraufhin zusammen mit Vergil Dante treffen, dessen GÖTTLICHE KOMÖDIE ja der Bericht eines großen Traums ist, dann zu Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM, zu Calderons DAS LEBEN IST EIN TRAUM, zur Walpurgisnachtszenerie in Goethes FAUST (Fassung Albrecht Schöne), zu Flauberts VERSUCHUNG DES HEILIGEN ANTONIUS, schließlich zu Strindbergs TRAUMSPIEL und zur Bordellszene in Joyces ULYSSES, an einer Stelle, wo der Roman ohnehin zum Theaterstück wird, kommen…

Gegebenenfalls werde ich mir erlauben, meine eigenen Traumspiele WONDREBER TOTENTANZ und BACH einzubeziehen. Bitte studieren Sie im Vorfeld schon – neben den genannte Stücken, die leicht greifbar sind – die Strukturen Ihrer Träume!

Theorie