Grundlagenmodul Szenisches Schreiben: S/WeS - Dramaturgie des Raumes
Ein Schiffsuntergang auf offener Bühne? Eine Hexenküche? Ein Wald in einer Sommernacht?
Theaterwelten entstehen aus Sprache, Sprache öffnet Vorstellungsräume.
Aber auch umgekehrt lassen räumliche Anordnungen, Theaterbauten, Stücke entstehen. Das Amphitheater der Antike gibt meistens einen öffentlich zugänglichen Vorplatz als Spielort vor. Es verweigert die Verlagerung der dramatischen Handlung nach Innen, ins Haus, in den geschlossenen und geschützten Raum.
Das Verhältnis von Individuum und Öffentlichkeit ist somit fast programmatisch Teil der antiken Dramenliteratur.
Im Gegensatz dazu ist das Globe Theatre Shakespeares das überaus offene wie gleichzeitig vollkommen einfache Grundmodell aller modernen Theaterformen: Ein Schiffsuntergang wie im „Sturm“-, eine Hexenküche wie in „Macbeth“, ein Zauberwald wie im „Sommernachtstraum“ – alles ist auf diesen Brettern denkbar, darstellbar durch nichts als bildhafte Sprache. „Innen“ und „Außen“ wechselt ohne jede Anstrengung.
Die Einheit von Zeit und Ort ist aufgehoben.
Kleist gelingt es mit dem „zerbrochenen Krug“, den „König Ödipus“ noch einmal zu erfinden, diesmal allerdings als Komödie und im Gegensatz zum antiken Vorbild in einem Innenraum, der halb Amts- und halb Wohnstube ist. Ein Richter ermittelt gegen sich selbst, die Verstrickung von Amtsmacht und privater Begierde spiegelt sich im Raum.
Dieser Blick nach Innen ist eine der großen Möglichkeiten der Guckkastenbühne, des Portals. Die Portalbühne, ursprünglich aus dem Feudalismus stammend, ist die Voraussetzung für Tschechov, Hauptmann, Ibsen und die mit ihnen verbundenen Spielweisen. Heute existiert statt der „vierten Wand“ oft eine „fünfte“: der Videoscreen hat sich mit all seinen unerschöpflichen Möglichkeiten zu einem häufigen Element des sogenannten postdramatischen Theaters entwickelt – auch wenn es die Projektion von Raumbildern im Theater bereits seit den zwanziger Jahren gegeben hat.
Innerhalb des Seminars werden die gesellschaftlichen Ursachen und die theatralen Chancen und Fallen der jeweiligen Theaterformen theoretisch und praktisch untersucht:
Was ist das dramatische Potential einer abgeschlossenen Tür?
Das Seminar ist die Fortsetzung des von Jens Groß im vorigen Semester mit dem Seminar „Zur Dramatik der (postdramatischen) Situation…“ begonnen Moduls.