Das kalte Jahr
Das Land ist eingeschneit. Ein junger Mann wandert an einer Autobahn entlang. Einsame Felder, Jauchegruben, Rasthöfe und fensterlose Möbelhäuser sind die Stationen seines Weges. Das Ziel ist ein Dorf am Meer, am Rande eines ehemaligen Militärgebietes, wo sein Elternhaus steht. Müde und erschöpft muss er bei seiner Ankunft jedoch feststellen, dass die Eltern verschwunden sind. Ein geheimnisvoller Junge öffnet ihm die Tür. Schweigsam und störrisch zieht sich dieser in der darauffolgenden Zeit meist in das Kinderzimmer zurück, wo er an einem mysteriösen Projekt arbeitet. Nach und nach finden die beiden Zugang zueider. Was sie verbindet, sind Geschichten. Historische Geschichten von Auswanderern und Naturkatastrophen. Aber auch nacherzählte Geschichten aus dem Fernsehen, die den Jungen begeistern. – Am Ende steht mitten in der Eislandschaft ein Haus in Flammen, und in den Augen der Dorfbewohner spiegelt sich weit mehr als die Farbe des Feuers. Roman Ehrlich hat einen Roman geschrieben über die Einsamkeit der Menschen. Mit enigmatischer Brutalität verwebt er Historie und Gegenwart zu einem poetischen Meisterwerk. Ein Debüt, das niemanden kaltlässt. „Roman Ehrlich, Jahrgang 1983 und Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, ist der klassische Fall des ungerechtfertigten Leerausgehers bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Der von ihm vorgetragene Auszug aus seinem Roman wurde dieses Jahr von der Jury überwiegend gelobt, er war auch bei der abschließenden Abstimmung immer wieder im Gespräch – und er blieb am Ende ganz ohne Auszeichnung. Die düstere Rätselhaftigkeit des Textes, das lässt sich nun nach der kompletten Lektüre des Romans festhalten, löst sich auch nach knapp 250 beklemmenden und sprachlich enorm diszipliniert gehaltenen Seiten nicht auf… Wie aber nähert man sich einem solchen Buch, das sich in seiner Geschlossenheit und auch technischen Brillanz vehement jeglicher Interpretation verwehrt? Die Frage, was das alles soll, ist definitiv die falsche. Vielleicht soll all das gar nichts, außer schlicht und einfach Literatur sein: Sprache, Weltentwurf, Weltneuentwurf, Text gewordene Krisensituation. Das kalte Jahr gefällt sich nicht in der Erhabenheit eines mit viel Geschick entworfenen Ambientes von Einsamkeit und Entleerung“ (Tagesspiegel), Ein junger Mann verlässt die Großstadt Richtung Heimatdorf, das am Meer nahe einem stillgelegten Militärstützpunkt liegt. In seinem ehemaligen Zimmer logiert ein Kind, das in unbeobachteten Stunden an einem Werkstück, vielleicht einer Rohrbombe, bastelt. Die Familie des namenlosen Berichterstatters scheint spurlos verschwunden. Ohne die Geschehnisse zu hinterfragen, kümmert er sich um den Lebensunterhalt der kleinen Gemeinschaft und arbeitet im örtlichen Elektromarkt. Der 1983 geborene Autor, mit dem vorliegenden Debüt Teilnehmer des Bachmann-Wettbewerbes 2013, formuliert vor dem Hintergrund eines postzivilisatorischen Sujets fundamentale Fragen nach den Bedingungen des Menschseins. Der Ich-Erzähler, seines Zeitgefühles verlustig, sucht durch die Inventarisierung von Wirklichkeitsfragmenten verlorene Orientierung zurückzugewinnen. Er verfolgt diesen minimalistischen Ansatz ebenso konsequent wie das Referieren historischer oder televisionärer Begebenheiten, die ihm als identitätsbildende Muster dienen. Die rätselhafte Dystopie einer verdunkelten Welt eignet sich zur Ergänzung ausgebauter Romanbestände. (Lutz Hillingmeier)