Kerstin Preiwuß

Taupunkt

„Der Gedichtband einer Nacht: „22:58:12. Gleich Nacht“, so hebt Kerstin Preiwuß an und endet mit „09:49:43. Gleich Tag.“ Schon darin, in der vermeintlichen Präzision einer Zeitangabe und der sofortigen Relativierung durch einen vagen Zusatz, liegt ein Widerspruch. Der Titel von Kerstin Preiwuß‘ Band, der „Taupunkt“, kommt aus der Naturwissenschaft und bezeichnet jene Temperatur, die unterschritten werden muss, damit Wasserdampf sich als Tau oder Nebel abscheiden kann. Eine weitere präzise Angabe also, und doch ist die 1980 geborene Schriftstellerin, die sowohl als Romanautorin als auch als Lyrikerin große Anerkennung findet, weit entfernt von dem kalt-sezierenden Blick eines frühen Durs Grünbein beispielsweise. Das Wasser zieht sich als Leitmotiv ebenso durch diesen Band wie die kaum merklichen Übergänge von Aggregatszuständen, für die paradigmatisch jener Zustand zwischen Schlaf und Wachheit steht, den die Nacht eben mit sich bringt. „Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht.“ In solchen freien, schwebenden, den Augenblick umkreisenden Versen knüpft Kerstin Preiwuß ein Netz aus Beziehungen, hinter denen mal mehr, mal weniger deutlich auch die beiden großen Gegenspieler lauern – das Leben und der Tod. Der Taupunkt ist bei ihr jener Punkt, an dem die Gedanken manifest werden, sich in Sprache niederschlagen. Um dann zu verfliegen. Aber hier stehen sie nun, glücklicherweise“ (Platz 2 der SWR Bestenliste Juli/August 2020)

Lyrik
Berlin Verlag
2020